Makuladegeneration

Lucentis: Lichtblick im Alter

Eine Übersicht zu Avastin & Lucentis finden Sie hier: Avastin vs. Lucentis

DIE ZEIT 09.03.2006 Nr.11

Quelle: http://www.zeit.de/2006/11/M-Makula

Lichtblick im Alter

Mehr als vier Millionen Deutsche sind von der Altersblindheit bedroht. Viele Patienten können nun erstmals wirksam behandelt werden. Doch die neue Therapie droht das Kassenbudget zu sprengen

Es war Montag, der 18. Juli 2005, und Joan Miller absolvierte einen kurzen, aber triumphalen Auftritt. In präzise sieben Minuten, zwischen 12.41 und 12.48 Uhr, präsentierte die Augenärztin vom Massachusetts Eye and Ear Infirmary (MEEI) der Harvard University vor Fachkollegen ihren aktuellen Forschungsbericht. Der schlug nur deswegen nicht wie eine Bombe ein, weil die meisten der versammelten Augenheilkundler ihn bereits vom Hörensagen kannten.

Millers Botschaft bei der Tagung der amerikanischen Netzhautspezialisten im Queen Elizabeth Hotel in Montreal betraf eine Augenerkrankung, bei der von Heilung oder auch nur Besserung bislang keine Rede sein konnte: die altersabhängige Makuladegeneration (AMD). Nach überaus erfolgreichen klinischen Tests mit einem neuartigen Medikament, verkündete Miller, könne das zur Erblindung führende Netzhautleiden jetzt in vielen Fällen gestoppt, die Sehfähigkeit der von Blindheit Bedrohten sogar gebessert werden.

Hilflos müssen die Augenärzte seit Jahrzehnten mitansehen, wie die Erkrankung ihren Patienten die Sehkraft raubt. Die Fachgesellschaften rechnen mit 30 Millionen AMD-Patienten in den Industrienationen. Auch in Deutschland hat das Leiden epidemische Dimensionen erreicht. "Jeder zweite Patient in meiner Sprechstunde leidet unter AMD", sagt Karl Ulrich Bartz-Schmidt, Ärztlicher Direktor an der Universitäts-Augenklinik in Tübingen. Insgesamt dürften 4,5 Millionen Bundesbürger betroffen sein. Weil der Verlust der Sehschärfe in der Regel erst jenseits des sechzigsten Lebensjahres eintritt - obwohl der Krankheitsprozess weit früher beginnt -, wird die Häufigkeit der Erkrankung in den alternden Industriegesellschaften drastisch zunehmen.

Das Leiden verschont zwar die peripheren Bereiche der Netzhaut, zerstört aber just deren zentrales Areal mit der Stelle des schärfsten Sehens (der Makula). Am Ende des Krankheitsverlaufs steht der totale Ausfall des Sehsinns in der Mitte des Gesichtsfelds. Die Kranken erkennen Gesichter nicht mehr, sie können nicht mehr lesen, Auto fahren oder fernsehen.

Die Ursachen des Massenleidens waren bis dato weithin rätselhaft. Raucher sind besonders gefährdet, generell steigt das Risiko mit dem Alter: Jenseits der 65 leidet jeder vierte Deutsche an AMD in unterschiedlichen Stadien. Fünf Prozent der über 75-Jährigen sieht "mit dem Zweiten auch nicht besser" (Münchner Medizinische Wochenschrift) - bei ihnen ist die Erkrankung bis zur gesetzlich anerkannten Blindheit fortgeschritten. Mit der photodynamischen Therapie (PDT, einer laserverstärkten fotochemischen Behandlung), Kortisonpräparaten oder chirurgischen Maßnahmen können Augenärzte den Verfall der Sehkraft lediglich verzögern und Komplikationen behandeln - und auch das nur bei einigen Patienten.

Mit dieser Hilflosigkeit werde nun Schluss sein, verkündete die Netzhautexpertin Miller bei dem Kongress in Montreal. Nach jahrzehntelangen Forschungsanstrengungen meldet die Augenheilkunde echte Fortschritte in der Therapie solcher bislang unheilbarer Netzhautkrankheiten. "Erstmals können wir vielen Patienten sagen: Sie haben eine Chance, wieder besser zu sehen", sagt der Münsteraner Augenarzt Daniel Pauleikoff.

Unter Joan Millers Leitung hatten Fachkollegen in 97 US-Kliniken das Medikament Lucentis des kalifornischen Pharmaunternehmens Genentech an 716 Patienten mit einer besonders bösartigen Form der Krankheit (feuchte AMD) getestet - und erzielten, angesichts der bislang trostlosen Therapieaussichten, verheißungsvolle Resultate. Nach einjähriger Behandlung habe Lucentis den schleichenden Sehverlust bei 95 Prozent der Patienten gestoppt, erklärte Miller. Und mehr noch: Sogar eine erhebliche Verbesserung der Sehfähigkeit konnten die Prüfärzte bei einem knappen Viertel der Behandelten registrieren (bei höherer Dosierung sogar bei einem Drittel) - das galt bislang als völlig utopisch. "Da ist vernünftige Grundlagenforschung gemacht worden", lobt der AMD-Spezialist Frank Holz. Lucentis, sagt der Direktor der Bonner Universitäts-Augenklinik, sei "ein wesentlicher Durchbruch".

Erkenntnisgewinne melden auch die mit der Ursachenforschung befassten Genetiker. Soeben berichten amerikanische Forscher in Nature Genetics, ihnen sei es gelungen, die genetische Veranlagung für die Makulaerkrankung im Erbgut aufzuspüren (siehe Seite 40). Nach ihren Befunden wird das Erkrankungsrisiko wesentlich von Genvarianten auf den Chromosomen 1 und 6 bestimmt.

Trotz dieser Ergebnisse ist bis heute unklar, warum die Makuladegeneration in zwei Formen auftritt, der "trockenen" und der "feuchten". Beide starten mit einer Funktionsstörung des retinalen Pigment-Epithels, einer Zellschicht, die unter den eigentlichen Sehzellen liegt und für deren Versorgung zuständig ist. Bei 80 Prozent der Patienten folgt darauf die trockene Form der AMD. Durch entzündliche Prozesse, Sauerstoffmangel und beschleunigt durch giftige Stoffwechselprodukte bilden sich so genannte Drusen in der Netzhaut, winzige Eiweißablagerungen. Die toxischen Prozesse lassen die Sehzellen in der Makula absterben. Der Verlauf erstreckt sich über viele Jahre und führt nicht immer zur Erblindung. Allerdings verfügen Augenärzte kaum über Behandlungsmöglichkeiten.

Auch auf das Genentech-Präparat können sie nicht hoffen. Lucentis, ein biotechnisch geschneiderter Antikörper, wirkt nur bei jenen 20 Prozent der Patienten, die an der so genannten feuchten AMD erkrankt sind (siehe Grafik Seite 40). Doch auch das sind fast eine Million Menschen allein in Deutschland. Bei ihnen wachsen schadhafte Blutgefäße unter der zentralen Netzhaut ein, die Blutungen und Flüssigkeitsansammlungen verursachen. Bislang konnten die Mediziner nur versuchen, das Wachstum der Gefäße mit der Laserbehandlung PDT zu bremsen. Auch das gerade zugelassene Medikament Macugen kann das gefährliche Gefäßwachstum nur verzögern.

Mit Lucentis scheint die Bildung neuer Gefäße dagegen wirksam gestoppt werden zu können. Für die Genentech-Forscher ist der so genannte Angiogenese-Hemmer bereits der zweite Triumph mit einem neuen Therapiekonzept: Die Antiangiogenese, die Blockade der Gefäßbildung, war ursprünglich von Harvard-Forscher Judah Folkman als Verfahren zur Krebsbekämpfung propagiert worden. Denn auch Tumore benötigen eine Blutversorgung und sondern daher Botenstoffe ab, die das Wachstum von Gefäßen auslösen. Gelänge es, diese Signalmoleküle, die VEGF (Vascular Endothelial Growth Factors), zu blockieren, folgerte Folkman, würde der Tumor regelrecht verhungern.

Seit 1989 sind Napoleone Ferrara und sein Wissenschaftlerteam bei Genentech dabei, Folkmans Erkenntnis in Medikamente umzusetzen. Ferraras erster Streich war Avastin, ein biotechnisch maßgeschneiderter Antikörper. Das Molekül heftet sich an VEGF-Botenstoffe und blockiert sie. Avastin versagte in Tests bei Brustkrebspatientinnen, erwies sich aber bei Enddarmkrebs als überraschend wirksam. Seit 2004 ist Avastin für die Darmkrebstherapie zugelassen.

Aus demselben Entwicklungsprojekt bei Genentech stammt auch Lucentis. Der Wirkstoff ist gleichsam der kleine Bruder von Avastin, ein biotechnisch geschrumpftes Antikörpermolekül. Es wird unter Betäubung in den Augapfel gespritzt und blockt, ebenso wie Avastin im Tumor, die schädlichen Gefäßwucherungen in der Netzhaut. Einmal abgestorbene Sehzellen kann jedoch auch Lucentis nicht wiederbeleben. Die Augenärzte dringen deshalb auf verbesserte Früherkennung. Hoffnung machen sie vor allem all jenen, deren Netzhaut noch nicht so stark geschädigt ist - ihnen könne das Medikament das Augenlicht retten.

Trotz aller Euphorie über die plötzlichen Behandlungserfolge sehen Augenärzte und Gesundheitsexperten der Markteinführung von Lucentis mit gemischten Gefühlen entgegen. Das Medikament könnte für die Finanzierung des Gesundheitssystems zu einem echten Problem werden. "Lucentis ist hochwirksam", sagt der Essener Augenmediziner Norbert Bornfeld, "und die Kassen bekommen es natürlich in die Erstattungspflicht, da gibt es kein Vertun." Dann wird es teuer. Wenn jeder geeignete AMD-Patient mit Lucentis behandelt werden soll - "und", so Klinikchef Bornfeld, "es wird schwer sein, dagegen zu argumentieren" -, droht den Kassen der Kollaps. Nach bisherigen Schätzungen wird die Lucentis-Therapie Milliarden verschlingen, mehr jedenfalls, als der bisherige Kassenetat für die Augenheilkunde insgesamt ausweist. Das, prophezeit Bornfeld, "wird die Kassen ruinieren". Denn mit einer Spritze ist es nicht getan, das Mittel muss zwei Jahre lang alle vier Wochen neu ins Auge injiziert werden. An der Tübinger Klinik rechnet man mit einem fünfstelligen Betrag pro Jahr für jeden Patienten.

Zudem werden noch Monate vergehen, bis das Mittel verfügbar ist. Genentech erwartet die Zulassung durch die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA im Sommer. In der vergangenen Woche hat Genentechs Partner Novartis auch die Zulassung bei der europäischen Kontrollagentur Emea in London beantragt. Sie dürfte Lucentis 2007 für Europa freigeben.

Nicht nur der vorhersehbare Finanzkollaps, auch die Zeitverzögerung lässt die Augenärzte derweil nach einem Ausweg aus der Misere suchen. Die therapeutische Notlösung für das Lucentis-Problem liefert dessen Hersteller selbst: Genentechs Avastin. Dieses erste Antiangiogenese-Präparat der US-Company ist bisher nur für die Krebstherapie zugelassen, doch es blockiert ebenso wie Lucentis die Gefäßwucherungen in die Retina - und es ist weit billiger. Es war der amerikanische Arzt Philip Rosenfeld, der im vergangenen Jahr als Erster den Versuch unternahm, seinen AMD-Patienten Avastin ins Auge zu spritzen.

Seither wird Avastin bei den Ophthalmologen als Mittel der Wahl herumgereicht. Ende Februar, beim Weltkongress der Augenärzte in São Paulo, berichteten allein die dort versammelten Mediziner über 5000 Behandlungen AMD-Kranker mit dem Darmkrebsmedikament. Solche so genannten off label- Therapien mit einem für die Erkrankung eigentlich nicht zugelassenen Medikament können von den Krankenkassen bezahlt werden, wenn kein anderes wirksames Mittel zur Verfügung steht und ein Behandlungserfolg zu erwarten ist. Auch an den deutschen Unikliniken hat die off label- Behandlung Fuß gefasst. Im Mai wird die Deutsche Retinologische Gesellschaft verbindliche Therapierichtlinien für Avastin vorlegen. "Wir wissen - und erklären den Patienten -, dass dies experimentell ist", sagt der Augenmediziner Bornfeld. Dennoch halten er und seine Kollegen das Vorgehen für gerechtfertigt. Zwar ist noch unklar, ob Avastin ebenso effektiv ist wie Lucentis, aber es wirkt. "Wir erzielen bei vielen Patienten Verbesserungen der Sehfähigkeit", versichert Bornfeld, "das hat es vorher nie gegeben." Als Vorteil werten die Augenärzte auch, dass Avastin in größeren Abständen in das Augeninnere gespritzt wird als Lucentis - was die Gefahr von Zwischenfällen verringert. "Jede intraokulare Injektion birgt das Risiko einer Infektion", sagt Augenarzt Daniel Pauleikoff. Zudem ist die Behandlung deutlich billiger, ergaben Berechnungen in der Tübinger Uniklinik: Avastin würde die Kassen mit nicht einmal einem Zehntel der für Lucentis zu veranschlagenden Kosten belasten.

Beim Lucentis-Hersteller Genentech und seinem europäischen Partner Novartis ist man von der Konkurrenz durch das Produkt aus dem eigenen Haus wenig begeistert. Die angepeilten Jahresumsätze mit Lucentis könnten schrumpfen. Mehr noch fürchten die Firmen Zwischenfälle bei der Behandlung mit Avastin. Sollten gravierende Nebenwirkungen auftreten, würde womöglich auch Lucentis in Verruf geraten. "Wir sind besorgt", erklärt Genentech-Sprecherin Dawn Kalmar. "Das Auge ist eine sensible Struktur. Avastin wurde dafür nicht gemacht. Patienten und Ärzte gehen ein Risiko ein."

Das wissen die Augenärzte. "Man muss Avastin vorsichtig handhaben", sagt Bornfeld. Zur Sicherheit haben Philip Rosenfeld und seine Kollegen in den USA eine internationale Datenbank eingerichtet, dort werden Behandlungszahlen und Nebenwirkungen vermerkt. Nach Tausenden Anwendungen, berichtet die Gruppe, könne das Medikament als sicher gelten. "Das entspricht den Erfahrungen in Deutschland", sagt Bartz-Schmidt.

Dennoch ist es offen, ob sich die kostengünstige Therapie mit Avastin im Gesundheitssystem auf lange Sicht durchsetzen lässt. Mit Macht versuchen die Fachleute in den Augenkliniken daher, Behandlungsergebnisse zusammenzutragen, um bei Kassen und Gremien die Gleichwertigkeit von Avastin und Lucentis zu belegen. Wollen die Mediziner Avastin auf Dauer zur Therapie einsetzen, sagt Pauleikoff, "dann sind wir verpflichtet, den Beweis zu erbringen, dass es wirklich genauso gut ist". Dass es billig sei, reiche als Argument auf keinen Fall aus, meint der Münsteraner Augenarzt: "Patienten, die unter dieser fürchterlichen Krankheit leiden, muss die bestmögliche Therapie angeboten werden."

Genforschung

Schwachstellen im Erbgut

"Noch vor wenigen Jahren wussten wir praktisch nichts über die Ursachen von Makuladegeneration", sagt Rando Allikmets, "jetzt wissen wir eine ganze Menge." Der Forscher von der New Yorker Columbia University hat mit seinen Kollegen das Erbgut von vielen hundert AMD-Patienten durchleuchtet und es mit den Genen gesunder Menschen verglichen. Jetzt, so berichten die Forscher im Fachblatt Nature Genetics, haben sie zwei eng verwandte und direkt benachbarte Gene auf dem Chromosom 6 entdeckt, die eine Veranlagung für das Netzhautleiden verursachen.

Die beiden Gene, BF und C2, sind für die Produktion von Eiweißfaktoren zuständig, die Entzündungsreaktionen bei Infektionen aktivieren. Allerdings kommt das Genduo in drei Varianten vor, zwei von ihnen wirken nach den Befunden der Genetiker schützend, eines birgt eine Anfälligkeit für AMD. Offenbar hält es Entzündungsreaktionen besonders lange in Gang.

Schon im vergangenen Jahr hatten vier Wissenschaftlerteams zwei Varianten eines Gens auf dem Chromosom 1 aufgespürt, das die Bauanleitung für den so genannten Koimplementfaktor H (CHF) enthält. Ebenso wie BF und C2 ist Faktor H ein Regulator des bei Entzündungen wichtigen Komplementsystems. Anders als C2 und BF schaltet CHF die Entzündung aber ab. Allerdings tut nur der von der einen Genvariante produzierte Faktor seinen Dienst gut. Diese Variante schützt ihre Träger tatsächlich vor AMD, die andere ist ein Risikofaktor.

Die drei Gene und ihre molekularen Varianten könnten 74 Prozent des Erkrankungsrisikos erklären, sagt Allikmets, "mehr als bei jeder anderen komplexen Krankheit bekannt ist". Die Befunde stützen die Vermutung, dass letztlich schwelende Entzündungsprozesse im Auge zum Absterben der Sehzellen führen. Allerdings ist das nicht die ganze Geschichte: Damit die Krankheit wirklich ausbricht, müssen noch andere Einflüsse hinzukommen. Die US-Forscher fahnden nun nach Infektionserregern, die den Anstoß für die Krankheit AMD geben könnten.

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